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DRITTE PHASE (1797-1803): Umwandlung der religiösen Grundvorstellungen  der Originalbotschaft Jesu 

DRITTE PHASE (1797-1803): Umwandlung der religiösen Grundvorstellungen  der Originalbotschaft Jesu 


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DRITTE PHASE
 

Umwandlung der Grundvorstellungen
der Originalbotschaft Jesu
in die entsprechenden philosophischen Begriffe:
Entstehung der Begriffe des Absoluten und der absoluten Sittlichkeit

 

Zeitlicher Rahmen:1797-1803

Hauptquellen: Texte der Frankfurter Zeit, Jenaer Kritische Schriften,
System der Sittlichkeit

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Einführende Bemerkungen

1796 ist Hegel also in der Frage nach der Vernünftigkeit der ethisch-religiösen Originallehre Jesu zu diesem ersten Ergebnis gelangt: die Positivität dieser Lehre entspricht nicht ihrem Wesen, sondern ist ein äußerlicher Aspekt, der auf ihre Vorstellungsform zurückzuführen ist. Diese steht wiederum mit dem jüdischen Ursprung dieser Religion in Zusammenhang.

In den beiden folgenden Jahren setzt Hegel seine Überlegungen über die Vernünftigkeit der ethisch-religiösen Lehre Jesu fort und verfasst einige Texte, die von Nohl unter dem gemeinsamen Titel Der Geist des Christentums und sein Schicksal überliefert wurden. Dank der wissenschaftlichen Ausgabe in GW 2 wissen wir heute, dass es sich um mehrere, nicht immer zusammenhängende Texte handelt.  Es sind vorwiegend die Texte ab 48.([1])

Diese Texte enthüllen ebenso wie der Verlauf des Hegelschen Denkens in diesen beiden Jahren einen zweifachen, historischen und philosophischen, Aspekt:

- Einerseits sind sie als eine historische Zusammenfassung der Gedanken und Schlussfolgerungen des jungen Philosophen zum Wesen und zum Ursprung der christlichen Religion zu sehen;

- Andererseits kennzeichnen diese Fragmente gleichzeitig den Beginn der philosophischen Konstruktion der neuen ethisch-religiösen Theorie Hegels, die dann im ersten vollständigen, wenn auch noch nicht definitiven, philosophischen System aus den Jahren 1805/06 realisiert werden wird.

Die historische Ebene, die den Fragmenten den Grundton verleiht und in diesen beiden Jahren die bemerkenswerteste Ebene in der Entwicklung des Hegelschen Denkens ist, besteht aus der Zusammenfassung der Hegelschen Studien über den Ursprung der christlichen Religion. Diese Zusammenfassung bildet gleichzeitig das endgültige Urteil über diese Lehre, zu dem der junge Denker nach zumindest vier Jahren intensiven Nachdenkens kam, wobei die beiden letzten Jahre ausschließlich dem Vergleich zwischen dem ursprünglichen und dem historisch entwickelten, positiven Christentum gewidmet waren. Dieses Urteil stellt also seine definitive und vollständige Antwort auf die Frage nach der Vernünftigkeit der ursprünglichen Botschaft Jesu dar. Diese Frage hatte er sich nach der Verfassung der Schrift über Das Leben Jesu gestellt.

Hegel stellt im ursprünglichen Predigen Jesu zwei Komponenten fest:

- Die erste entspricht dem ewig wahren Inhalt seiner Botschaft und seiner Definition vom „Geist“ des Christentums (es handelt sich um den Inhalt dieser Lehre, den er bereits mit seinen Überlegungen in den Jahren 1794-1795 verstanden hatte);

- Die zweite entspricht der Form, in der Jesus die ewig wahre Botschaft seiner Lehre formuliert und zum Ausdruck gebracht hat. Diese Form ist nicht ewig wahr, sondern bezieht sich vielmehr auf die historische Periode ihres Erscheinens. Es handelt sich dabei um die auf Vorstellungen basierte, mythologisch-symbolische Form, die von Hegel bereits in den Texten zum Themekomplex Positivität der christlichen Religion erkannt wurde.

Die zweite Komponente hat im Laufe der Jahrhunderte als Wahrheitswert den Platz des von ihr ausgedrückten Inhaltes eingenommen und so die „natürliche“ Originalbotschaft Jesu in eine „positive“ umgewandelt. So wie der Inhalt der Botschaft Jesu den „Geist“ des Christentums darstellt,  entspricht die darstellende und positive Form dem „Schicksal“, das, wie wir gesehen haben, nicht mit dem Inhalt der ethisch-religiösen Lehre Jesu, sondern mit den historischen Gegebenheiten ihrer Entstehung zusammenhängt.

Diese Überlegungen kennzeichnen also das Ende des Prozesses der gründlichen Analyse des Christentums, die der junge, aber schon extrem tiefgründige Philosoph durchführte, um zu einem historisch und wissenschaftlich fundierten und somit definitiven Urteil über diese Religion zu gelangen. Ihm blieb es nun keine andere Möglichkeit, als den Weg der Geschichte zu verlassen und den der theoretischen Überlegungen zu beschreiten, also zum Aufbau einer neuen ethisch-religiösen Lehre überzugehen, die frei von jenen „Defekten“ der christlichen Lehre sein sollte, die sie unweigerlich zur Positivität „verurteilten“. Das wird das Ziel der nachfolgenden Entwicklung des Hegelschen Denkens sein.

Parallel zur Bildung eines zusammenfassenden Urteils über die Beziehung zwischen natürlichem „Geist“ und positivem „Schicksal“ des Christentums beginnt Hegel in der Tat in diesen Jahren, etwa 1797, mit der Ausarbeitung der Grundbegriffe seiner eigenen ethisch-religiösen Lehre.

Dieser Vorgang entspricht der zweiten, eher philosophischen Ebene der Texte aus diesen Jahren. Diese besteht aus der Erarbeitung der philosophischen Begriffe aus den religiösen Grundvorstellungen des ursprünglichen Christentums. Hegel beginnt mit der Ausarbeitung dieser Begriffe bei den Vorstellungen der universellen Liebe und des Anbruchs des Reichs Gottes, und wandelt die auf Vorstellung basierte Ausdrucksform in eine begriffliche Form um.

Der logische Inhalt der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens setzt sich in dieser langen zweiten Phase (1797-1803) der zweiten Periode aus verschiedenen Stadien zusammen, in denen der schwäbische Denker die Grundvorstellungen der ethisch-religiösen Lehre Jesu in die entsprechenden Begriffe umwandelt. Am Ende dieser Phase hat Hegel sowohl das religiöse, rationale und populäre Prinzip als auch das natürliche Ethikideal der neuen ethisch-religiösen Lehre formuliert. Er hatte sich die Gründung dieser Lehre schon seit der Tübinger Zeit vorgenommen. Und das ist nämlich der Moment, in dem Hegel nach seinem „Eintauchen“ in die Geschichte wieder auftauchen und mit der Realisierung seines eigenen Jugendideals beginnen konnte. Die Geschichte hat dem Menschen, der sie bescheiden um Rat gefragt hat, geistige Nahrung zur Verfügung gestellt.

Bevor er die christlichen Wurzeln seines eigenen Denkens zurückverfolgen konnte, stand Hegel vor dem Problem, ein religiös-metaphysisches Prinzip zur Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt zu schaffen, das gleichzeitig populär und rational sein sollte. Mit diesem Prinzip wiederum wollte er das Wesen des Menschen verstehen und so die neue natürliche Ethik formulieren und somit sein ursprüngliches Grundideal verwirklichen. Zwischen dem religiös-metaphysischen Prinzip und dem ethischen Ideal existiert, wie wir bereits in der ersten Periode der Entwicklung des Hegelschen Denkens gesehen haben, eine präzise logische Beziehung: Die Formulierung des ethischen Ideals hängt nämlich vom Verständnis des religiösen Prinzips ab, und so hängt auch bei diesem Umwandlungsvorgang der christlichen Vorstellungen in die entsprechenden philosophischen Begriffe jede Stufe der Umwandlung der Vorstellung des ethischen Ideals von der entsprechenden Stufe der Umwandlung der Vorstellung des religiöse-metaphysischen Prinzips ab.

 

Einteilung der dritten Phase in Stadien

Diese dritte Phase gliedert sich in drei Stadien, von denen jede einen Schritt darstellt, den Hegel im Prozess der Umwandlung der ursprünglichen Vorstellungen der Botschaft Jesu in die jeweiligen philosophischen Begriffe unternimmt.


ERSTES STADIUM (1797-99): Der erste Schritt besteht in der Umwandlung des religiösen Ideals der universellen Liebe in den philosophischen Begriff der Vereinigung der Gegensätze. Obwohl die Gegensätze scheinbar gegeneinander stehen, tragen sie in Wirklichkeit zum Reichtum des Ganzen, zur globalen Harmonie bei. 

Dieses religiöse Prinzip, das wir "ontologisch" nennen könnten, d.h. das Seiende als Seiende betreffend, begründet das ethische Ideal der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft ist von Hegel als die Einheit von Individuen, wo jeder Mensch für und mit den anderen Menschen in Harmonie lebt. Das beste Beispiel dafür ist nach ihm die Liebesbeziehung, die durch die Geburt eines Kindes zur Entstehung der Familie führt. Seine Worte darüber sind sehr schön und tief. In diesen Fragmenten finden wir viele der Begriffe wieder, die später das Gerüst seiner "Philosophie des objektiven Geistes" bilden werden.


ZWEITES STADIUM (1799-1800): Der zweite Schritt, den Hegel in dieser Operation unternimmt, besteht darin, ausgehend von dem Begriff der Einheit der Gegensätze und der Gemeinschaft, diese Begriffe weiter zu entwickeln. Aus der Einheit der Gegensätze ergibt sich insbesondere die Einheit von Gott und Mensch, die nicht völlig voneinander getrennt sind, sondern beide Ausdruck dessen sind, was Hegel nun "Leben" nennt. Gott ist das unendliche Leben, der Mensch das endliche Leben. Beide können aufeinander bezogen werden, eben weil sie an derselben Substanz, dem "Leben", teilhaben. 
Gerade weil Gott auch Leben ist, trägt der Mensch die Möglichkeit in sich, sich zur Göttlichkeit, d. h. zum Unendlichen zu erheben. In der Tat muss dies sein Vorhaben sein, seine Endlichkeit so weit wie möglich aufzugeben und sich zum Unendlichen zu erheben: Dies wird ein sehr wichtiger Begriff in Hegels reifer Philosophie sein und z.B. die "Phänomenologie des Geistes" hervorbringen. Die "Phänomenologie" wird nichts anderes sein als die Schilderung des Prozesses der Erhebung des subjektiven zum absoluten Geist sein, die Hegel 1799 noch Mensch und Gott nennt. Das Prinzip ist aber dasselbe. 

Dieses religiöse oder vielmehr metaphysisch-theologische Prinzip begründet auf moralischer Ebene das Ideal des religiösen Lebens. Das religiöse Leben besteht darin, diesen Zusammenhang von allem mit allem wahrzunehmen, zu schätzen, zu lieben und danach zu leben, auch in Verbindung mit den Mitmenschen, unter Überwindung von Unterschieden und Gegensätzen, die für die Harmonie des Ganzen notwendig sind. Es geht darum, mit den Mitmenschen immer die Einheit und die Synthese zu finden, nie der Trennung das letzte Wort zu überlassen. Es ist natürlich unvermeidlich, sich auseinanderzusetzen, die Dialektik selbst führt dazu. Die Dialektik soll aber auch zur Überwindung der Auseinandersetzung und zu einem gemeinsamen Schluss führen. Das ist der vollständige Prozess der Aufhebung.

 

DRITTES STADIUM (1801-03): In der dritten Stufe dieser Phase macht Hegel schließlich den entscheidenden Schritt zur Philosophie, der er mit dem Begriff des "Lebens" ohnehin schon sehr nahegekommen war. Am 14. September 1800 schließt er sein erstes System ab, das uns nur fragmentarisch unter dem Titel "Systemfragment" überliefert ist und dessen letzter Satz lautet, dass die Philosophie in die Religion aufhören soll; keine zwei Monate später schreibt er aber in seinem Brief an Schelling vom 2. November ausdrücklich, dass er in seiner philosophischen Bildung, die von den untergeordneten Bedürfnissen der Menschen  ausgegangen war, zur Wissenschaft getrieben werden musste, was in der Sprache jener Jahre "Philosophie" bzw. Wissen überhaupt bedeutete.
Das bedeutet, dass der Prozess der Umwandlung der Vorstellung Jesu in die entsprechende Begriffe inzwischen zu Ende gegangen war und er verstanden hatte, dass die wahre ‚Religion der Liebe und der Vernunft‘ die Philosophie ist, natürlich im Sinne der Identitätsphilosophie, die sein Freund Schelling damals vertrat und der sich Hegel bis 1803 anschloss.
Gerade die Philosophie seines ehemaligen Tübinger Kommilitonen, das "System des transzendentalen Idealismus", ermöglichte es Hegel, den letzten Schritt in der von ihm vollzogenen Umwandlung zu tun. Das religiöse Prinzip der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott wird nun in Schellingscher Sprache zum Absoluten, zur Einheit von Subjekt und Objekt, zur absoluten Indifferenz, die der Leonberger Philosoph in besonderer Weise in der künstlerischen Erfahrung verwirklicht sah. Hegel akzeptiert zwar dieses Prinzip, stimmt aber mit seinem Freund und Kollegen nicht ganz darin überein, dass die Kunst die höchste Form der Präsenz des Absoluten im Menschen darstellt. Der abschließende Teil des Aufsatzes über die Differenz zwischen den Systemen von Fichte und Schelling zeigt dies deutlich. 
In der philosophischen Kontroverse, die damals in Deutschland zwischen Schllings System und dem von Fichte ausgetragen wurde, für den das Objekt, die Natur, im Ich, im Subjekt aufgelöst ist, steht Hegel jedoch ganz auf der Seite von Schelling. Für Schelling gibt es die Vernunft in der Natur und offensichtlich auch die Vernunft im Geist, also gibt es ein Drittes, das als das Absolute beide miteinander verbindet und sich in der Kunst offenbart. Die Kunst ist in der Tat Natur als Eingebung, Inspiration, Inhalt den der Künstler von woanders bekommt; die Eingebung ist etwas Objektives, nicht Subjektives; der Form nach, z.B. der künstlerischen Technik nach, ist aber der Künstler selbst subjektiv tätig, er ist der Hauptdarsteller. Somit enthält die Kunst beide Elemente, Objektivität und Subjektivität, und offenbart somit die Präsenz des Absoluten, das eben Einheit von Objekt und Subjekt ist. 
Das ethische Ideal, das dieser metaphysischen Vision entspricht, ist das der absoluten Sittlichkeit. Gerade weil das Absolute im Menschen präsent ist, also die höhere Kraft, die die Substanz des Ganzen ist, erhält er einen besonderen Wert und muss daher nicht als endliches Wesen, als Körper, sondern als unendliches Wesen, als Geist, als Präsenz des Absoluten betrachtet werden. Die ethische Beziehung setzt diese Anerkennung der Absolutheit oder Unendlichkeit des anderen Menschen voraus. Der andere ist etwas Absolutes, nicht irgendein endliches Wesen. 
Hier zeigt sich jedoch bereits der Unterschied zwischen Schelling und Hegel, der im zweiten Teil des Jena-Aufenthalts ab 1803 explodieren wird: Wenn der Mensch die Präsenz des Absoluten ist, kann sich diese Präsenz nicht nur in der künstlerischen Erfahrung offenbaren, die wenigen gehört, sondern muss sich in etwas offenbaren, das allen gehört. Die Lösung dieser wichtigen Frage wird Hegel dazu führen, den Begriff des absoluten Geistes, den unterscheidenden Teil seiner eigenen Philosophie im Vergleich zu der Schellings, auszuarbeiten und die erste endgültige, aber noch nicht vollständige Fassung seines eigenen philosophischen Systems zu erarbeiten (1803-06).

 

FUßNOTEN


[1]) Siehe GW 2, Editorischer Bericht, S. 631-632.

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