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DRITTES STADIUM  (1801-1803): Entstehung der logischen Dialektik

DRITTES STADIUM (1801-1803): Entstehung der logischen Dialektik

 

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DRITTES STADIUM

(1801-1803)

 

Entstehung der logischen Dialektik

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Der nächste logische Schritt im Hegelschen Denken besteht darin, der Identität von Mensch und Gott, als Ergebnis des notwendigen Prozesses der Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben, einen spezifischen Namen zu geben und insbesondere die Beziehung zwischen Gott als Ganzheit und dem Menschen als Teil zu bestimmen. Die Einheit der Gegensätze Mensch-Gott wird nun zum Begriff des Absoluten, den Hegel vor allem während der Lektüre der Schriften seines ehemaligen Universitätskollegen Schelling aufnimmt.

Im Januar 1801 trifft Hegel in Jena ein. Am 14. September des Vorjahres hat er den Text 64 fertiggestellt und im Wintersemester 1801/02 hält er seine erste Vorlesung in Logik und Metaphysik an der Universität Jena. In dieses Jahr zwischen dem Winter 1800/01 und dem Winter 1801/02 ist daher auch die Erarbeitung des Begriffs zu legen, der das dritte Stadium des Umwandlungsprozesses der religiösen Vorstellung der universellen Liebe in den logisch-metaphysischen Begriff des Absoluten bildet. Dieser Begriff, wenn auch noch nicht in definitiver Formulierung, muss also auch die Grundlage für die oben erwähnte Vorlesung gebildet haben (vgl. Düsing 1988).

Hegel konnte diesen Begriff durch das sorgfältige Studium der damaligen idealistischen Philosophie ausarbeiten. Dieses Studium gab den Anstoß zur Schrift über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems, die Ende Juli 1801 veröffentlicht und in der ersten Hälfte desselben Jahres abgefasst wurde. Diese Arbeit beweist Hegels genaue Kenntnis von den bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten erkenntnistheoretischen Werken von Kant, Fichte, Schelling und Reinhold sowie von einigen weniger bedeutenden Autoren. Außerdem stellt sie die Hauptquelle für die Rekonstruktion seiner intellektuellen Fortschritte in diesem Stadium dar.([13])

Gemeinsam mit Schelling arbeitete Hegel damals an der Publikation des Kritischen Journals der Philosophie, und außerdem arbeiteten die beiden jungen Dozenten auch an der Universität Jena als Kollegen eng zusammen. Somit hatte Hegel also in den Diskussionen mit seinem alten Universitätskameraden die Möglichkeit, mit den aktuellen philosophischen Problemen sowie mit deren modernsten Lösung, also mit der Philosophie von Schelling selbst, in Berührung zu kommen. Hegel änderte tatsächlich nie seine ursprüngliche Meinung, in der Abhandlung von 1801 zum Ausdruck gebracht, dass Schelling mehr als Fichte, Reinhold, Jacobi usw. in der Lage gewesen war, eine exakte Lösung des Problems der Beziehung zwischen Vernunft und Welt anzubieten, das die Kantische Philosophie mit der Problematik des  ‚Ding an-sich‘ ungelöst gelassen hatte. Er erkannte jedoch sehr bald die Grenzen, die das philosophische System von Schelling noch einengten, und beseitigte sie durch sein eigenes philosophisches System.([14])

Beim Umzug Hegels von Frankfurt nach Jena, also bei seinem Übergang von der Periode der Studien, die noch von Themen und Kategorien  aus der Religion dominiert wurde, zu der Periode, die von Themen und Kategorien aus der reinen Philosophie beherrscht wurde, ist folgender Aspekt besonders relevant: Hegel hätte das philosophische Material seiner Zeit niemals auf solch persönliche und originelle Art und Weise überarbeiten können, wenn er in Jena nicht schon mit einer eigenen Welt- und Menschenauffassung angekommen wäre, die nun in philosophische Begriffe gefasst werden musste. Er wäre in den hitzigen akademischen Debatten, damals das verbreitete Mittel der intellektuellen Kommunikation, höchstens zum Verfechter von Schelling geworden.

So konnte der Philosoph aus Stuttgart hingegen, überzeugt von seiner ‘Weltanschauung’, die das Ergebnis kritischer Studien des Ursprungs des Christentums war, genau in diesen Jenaer Jahren die Frage nach einer neuen Welt- und Menschenauffassung auf originelle Art und Weise  interpretieren und diese mit seinem eigenen philosophischen System lösen.

Analysieren wir nun den logischen Fortschritt Hegels auf religiös-metaphysischer Ebene, um dann jenen auf ethisch-moralischer Ebene zu untersuchen, der ja vom ersten abhängig ist.

 

ERSTER MOMENT

(1801)

Umwandlung des religiösen Prinzips:

vom theologischen Begriff der Einheit der Gegensätze Mensch-Gott

zum logisch-metaphysichen Begriff des Absoluten

 

Zwischen 1797-1799 hat Hegel die christliche Vorstellung der universellen Liebe in den Begriff der Einheit der Gegensätze umgewandelt; 1799-1800 wird die Einheit der Gegensätze zur Einheit von Mensch und Gott bzw. von endlichem und unendlichem Leben. Durch das Studium der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere der von Schelling, wird die Einheit von Mensch und Gott, von endlichem und unendlichem Leben, 1801 schließlich zur logisch-metaphysischen Identität von Subjekt und Objekt: zum Absoluten.([15])

Das Absolute ist die Identität von Subjekt und Objekt, von Denken und Sein, d.h. es stellt die Benennung dar, die Hegel dem Begriff der Einheit von endlichem und unendlichem Leben, Vernunft und Gott, entstanden in der Zeit 1799-1800, zuerkannte. Bereits im "Systemfragment" findet sich nämlich  neben dem kategorialen Paar Endlich-Unendlich auch das Paar Subjekt-Objekt.([16])

Was bisher noch in der mehrdeutigen und unreinen Form der Religion ausgedrückt war, wird nun in der eindeutigen und reinen Form des philosophischen Begriffs zum Ausdruck gebracht. Diese expressive Form ist jedoch nichts anderes als eine Umwandlung der ehemals religiösen Sprache in philosophische Begriffe und sicher nicht ein völlig neuer Gedanke in der Entwicklung des Hegelschen Denkens, wie es z.B. auch aus der folgenden Definition des Absoluten hervorgeht:

„Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität [...]“ (Differenzschrift,  in GW 4, S. 64).

Diese Definition ruft uns einerseits sofort die Definition des Lebens als Verbindung und Nicht-Verbindung aus dem Text 63 ins Gedächtnis, andererseits kündigt sie unmissverständlich die dialektische Auffassung der "Wissenschaft der Logik" an.

Dieser Wechsel in der Sprache verbirgt aber auch eine Veränderung des logischen Inhalts, auch wenn es sich nicht um eine substantielle Veränderung des Hauptinhalts des Hegelschen Denkens handelt: Die subjektive und reflexive, also religiöse, Sichtweise wird zugunsten der objektiven und spekulativen, also logisch-metaphysischen, Sichtweise aufgegeben; damit wird das Objekt nicht mehr für-uns, sondern an-und für-sich erkannt:

„In der absoluten Identität ist Subjekt und Objekt auf einander bezogen, und damit vernichtet“ (Differenzschrift,  in GW 4, 63).

Gott oder die Welt ist die Gesamtheit der natürlichen Individuen, seiner Teile; er ist der  Geist, der sich durch diese Teilen hindurch entwickelt, ihre unsichtbare Einheit, die aber sehr wohl existiert. Die menschliche Vernunft ist unter diesen Teilen derjenige, der die Fähigkeit besitzt, sich zu diesem Geist zu erheben und ihn zu begreifen, da sie aus derselben göttlichen Substanz besteht. Diese Substanz ist also die Einheit oder die Identität, in der sowohl  Gott-Natur (Welt) als auch der Mensch (Religion) enthalten sind. Sie entspricht der ‘absoluten Identität’ von Schelling.

Obwohl man behaupten könnte, in den Texten 63 und 64 sei mit dem Begriff des Lebens, wenn auch nur implizit, einen den Begriffen vom endlichen und unendlichen Leben übergeordneten Begriff bereits enthalten, behandelt Hegel diesen Begriff nicht gesondert und trennt ihn daher anscheinend nicht von seinen beiden Manifestationen (zumindest in den wenigen überlieferten Blättern des Gesamtmanuskripts). Der junge Denker scheint sich nämlich mehr auf die beiden Gegensätze und deren Einigungsprozess durch die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen zu konzentrieren und seine Aufmerksamkeit weniger auf ihre ursprüngliche, der Spaltung vorausgehende Vereinigung zu richten, d.h. auf die Tatsache, dass beide Leben sind. Möglicherweise ist er zu dieser ursprünglichen Identität von Endlichem und Unendlichem erst seit der Jenaer Zeit gelangt, also erst seit er die Philosophie Schellings intensiv studiert hat, und nicht vorher, auch wenn notgedrungen ein leiser Zweifel zu dieser Schlussfolgerung bestehen bleiben muss, da das Manuskript aus dem Jahre 1799-1800 unvollständig ist.

Durch diese Auffassung von der absoluten Identität kann Hegel hingegen definitiv die Trennung beseitigen, die in den Texten 63 und 64 noch vorhanden ist, und zwar zwischen Vernunft und Welt, zwischen endlichem und unendlichem Leben, die jetzt nicht mehr zwei getrennte Wesen darstellen, sondern nur mehr zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Substanz, die sich durch sie ausdrückt und ihre Existenz bewirkt. Diese Substanz ist das Absolute, also nicht Vernunft im subjektiven Sinn der menschlichen Vernunft, sondern im objektiven Sinn von ‘Gott’, im Sinne Spinozas ‚causa sui‘.

Ermöglicht wird dies dadurch, dass das wissende Subjekt einen „höheren Standpunkt“ erreicht hat, wie Hegel es ausdrückt, nämlich den Standpunkt der Indifferenz zwischen Subjekt und Objekt, die gerade durch das Absolute konstituiert wird:

 

„[…] der höhere Standpunkt, der die Einseitigkeit beyder Wissenschaften in Wahrheit aufhebt, ist derjenige, der in beyden ebendasselbe Absolute erkennt.“ (GW4, 68, 1-3) 

 

„Das Prinzip der Identität ist absolutes Prinzip des ganzen Schellingschen Systems; Philosophie und System fallen zusammen; die Identität verliert sich nicht in den Teilen, noch weniger im Resultate.
Daß absolute Identität das Prinzip eines ganzen Systems sei, dazu ist notwendig, daß das Subjekt und Objekt beide als Subjekt-Objekt gesetzt werden. Die Identität hat sich im Fichteschen System nur zu einem subjektiven Subjekt-Objekt konstituiert. Dies bedarf zu seiner Ergänzung eines objektiven Subjekt-Objekts, so daß das Absolute sich in jedem der beiden darstellt, vollständig sich nur in beiden zusammen findet, als höchste Synthese in der Vernichtung beider, insofern sie entgegengesetzt sind, als ihr absoluter Indifferenzpunkt beide in sich schließt, beide gebiert und sich aus beiden gebiert.“ 
(GW4, 68, 1-3)

 

Dieses dritte Stadium im Vorgang des Herausarbeitens jenes Begriffs, der in der Vorstellung Jesu von der universellen Liebe implizit vorhanden ist, entspricht dem logischen Wert des Absoluten. Der ontologische und theologische Wert, in den vorigen Stadien bestimmt, sind im logischen Wert mit eingeschlossen. Dadurch ist dieser nicht mehr rein logisch-formal, sondern er bekommt einen logisch-substantiellen bzw. logisch-metaphysischen Wert, und zwar in dem von Hegel in der Einleitung zur Wissenschaft der Logik explizit erklärten Sinn.

Dieser Begriff des Absoluten wird später von Hegel als „absolute Idee“ bezeichnet. Er wird das religiöse, populäre  und rationale Prinzip seiner neuen ethisch-religiösen Lehre sein. Da dieses Prinzip rein metaphysisch und logisch ausgedrückt werden wird, wird die neue religiöse Lehre die Wissenschaft der Logik sein. Die ursprüngliche Formulierung des Begriffs der absoluten Idee findet man jedoch bereits 1801, und zwar als logischen Ausdruck des begrifflichen Inhaltes des theologischen Prinzips, das die ‚Weltanschauung‘ der Texte 63 und 64 von 1799-1800 zugrunde liegt.

 

ZWEITER MOMENT

(1802/03)

Umwandlung des ethischen Ideals:

vom Ideal des religiösen Lebens

zum  Ideal der absoluten Sittlichkeit

 

Kommen wir nun zur Hegelschen Umwandlung der ethischen Vorstellung des Anbruchs des Reichs Gottes in den entsprechenden Begriff. Sie entspricht natürlich dem dritten Stadium der Umwandlung des religiös-metaphysischen Prinzips, also dem Begriff des Absoluten, da sie ja von diesem Begriff begründet und daher erst möglich gemacht wird.

Das religiös-metaphysische Prinzip dieses Stadiums ist der Begriff des Absoluten, d.h. die Identität von Vernunft (oder Subjekt) und Welt (Objekt). Das entsprechende ethische Ideal ist der Begriff der absoluten Sittlichkeit als Einheit von individuellem und universellem Geist im praktischen Handeln. Wir wollen nun genau untersuchen, was das bedeutet und welche logische Beziehung zwischen diesen beiden Begriffen existiert.

Hegel hat schon 1800 in seinem ersten ausformulierten System, noch eine Mischform von Religion und Philosophie, die Beziehung bestimmt, die zwischen dem religiösen Prinzip der Wiedereinfügung der Vernunft in die Welt und dem ethischen Ideal der Wiedereinfügung des Geistes in die Materie besteht. Das religiöse Leben, das ethische Ideal, ist vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott abhängig, bzw. in der Tat vom religiösen Prinzip, in dem sich diese Erhebung ausdrückt. Dieser Erhebung lässt sich nämlich in verschiedene Grade einteilen; sie muss unbedingt stattfinden, weil der Mensch, das endliche Leben, von Gott, dem unendlichen Leben, abhängig ist, wobei der Grad dieses Geschehens jedoch zufällig ist. Der Grad der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, die die Menschheit durch den Schelling-Hegelschen Begriff der absoluten Identität erlangt hat, ist die höchste Stufe des reinen Begriffs. Tatsächlich bleibt auf dieser Ebene weder etwas vom Subjekt (‚Mensch - endliches Leben‘), noch vom Objekt (‚Gott - unendliches Leben‘) erhalten, da die beiden eine perfekte Einheit bilden: Die absolute Vernunft, die sich selbst erkennt, und indem sie sich selbst erkennt, erkennt sie auch das Absolute, also Gott. Hegel zeigt sich schon 1802 in seiner Schrift "Glauben und Wissen" voll dieser Tatsache bewusst:

Der reine Begriff  aber, oder die Unendlichkeit, als der Abgrund des Nichts, worinn alles Seyn versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist todt, dasjenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war, mit Pascals Ausdrücken: la nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de l’homme, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment, der höchsten Idee bezeichnen, und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraction war, eine philosophische Existenz geben, und also der Philosophie die Idee der absoluten Freyheit, und damit das absolute Leiden oder den speculativen Charfreytag, der sonst historisch war, und ihn selbst, in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein, weil das Heitre, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien, so wie der Naturreligionen verschwinden muß, die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend, und in die heiterste Freyheit ihrer Gestalt auferstehen kann, und muß“  (GW 4, S. 414).

In Übereinstimmung mit dem Bewusstsein, im Begriff der absoluten Identität den Begriff der absoluten Einheit zwischen Mensch und Gott formuliert zu haben, entwickelt sich in Hegel auch das Bewusstsein, dass das menschliche Handeln bzw. der Sinn, den der Mensch seiner Existenz gibt, und - auf sozialer Ebene - die intersubjektive Lebensform, die ein Volk sich gibt, Manifestationen des Absoluten selbst sind.

Das religiös-metaphysische Prinzip des Absoluten führt daher zu diesem Ergebnis: Der Mensch, die reine Vernunft, ist die absolute Identität von Subjekt und Objekt, Mensch und Gott. Daraus leitet sich folgendes Moralideal ab: Das Handeln des Menschen ist vom Grad der Erhebung des Menschen zu Gott abhängig und da diese Stufe in  der Schelling-Hegelschen Philosophie der Stufe der völligen Identität der beiden entspricht, ist das menschliche Handeln folglich das Handeln Gottes selbst.

So Hegel im "System der Sittlichkeit" (1802/03):
 

„In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Sein und Tun ist ein schlechthin Allgemeines; denn es ist nicht das Individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm. Die Ansicht der Philosophie von der Welt und der Notwendigkeit, nach welcher alle Dinge in Gott sind und keine Einzelnheit ist, ist für das empirische Bewußtsein vollkommen realisiert, indem jede Einzelnheit des Handelns oder Denkens oder Seins ihr Wesen und [ihre] Bedeutung ganz allein im Ganzen hat, und insofern ihr Grund gedacht, ganz allein dieses gedacht wird, und das Individuum keinen andern weiß und sich einbildet; da das nicht-sittliche empirische Bewußtsein darin besteht, daß es zwischen das Einssein des Allgemeinen und Besondern, deren jenes der Grund ist, irgend eine andere Einzelnheit als Grund einschiebt; hier hingegen ist die absolute Identität, die vorher der Natur und etwas Inneres war, ins Bewußtsein herausgetreten.“  (GW5, S. 325)
 

Menschliches und göttliches Handeln treffen also in dem Moment zusammen, in dem es dem empirischen Menschen gelingt, sich durch die wahre philosophische zur Erkenntnis von Gott, von dem Absoluten, zu erheben. Dies ist die Grundbedeutung des ethischen Ideals der absoluten Sittlichkeit, die von Hegel in mündlicher Form zum ersten Mal in den Vorlesungen zum Naturrecht dargelegt wurde, die er mit einigen Unterbrechungen ab dem Wintersemester 1802 hielt,  und in schriftlicher Form 1802/03 in der Abhandlung Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts sowie im System der Sittlichkeit zum Ausdruck brachte.

Das Ideal der absoluten Sittlichkeit ist also der definitive, begriffliche Ausdruck der Vorstellung des Anbruchs des Reich Gottes, mit dem Jesus den Menschen auf ethischer Ebene von Geist und Materie wieder in die Natur eingefügt hatte. Durch dieses Ideal möchte Hegel nämlich seine Überzeugung ausdrücken, das die intersubjektive, vom Menschen auf der Erde konstruierte Welt, also die Welt des Geistes, nicht das zufällige Ergebnis des willkürlichen Wirkens von zufälligen Menschen ist, sondern die Manifestation der Gottheit, des Absoluten selbst. Das Volk, das nach Hegel schon seit diesen Jahren nicht nur die einfache mathematische Summe von einzelnen Individuen, sondern ihre organische Einheit ist, die in dem Begriff der Sittlichkeit ausgedrückt wird,([17]) ist der höchste Ausdruck dieses Absoluten.

 

„Die Anschauung dieser Idee der Sittlichkeit aber, die Form, in der sie von Seiten ihrer Besonderheit erscheint, ist das Volk. Es ist die Identität dieser Anschauung und der Idee zu erkennen. In dem Volke nämlich ist überhaupt formell die Beziehung einer Menge von Individuen gesetzt, nicht eine beziehungslose Menge, noch eine bloße Mehrheit; jenes nicht, eine Menge überhaupt setzt nicht die Beziehung, die in der Sittlichkeit ist, die Subsumtion aller unter ein Allgemeines, das Realität für ihr Bewußtsein hätte, eins mit ihnen wäre und Macht und Gewalt über sie hätte, insofern sie Einzelne sein wollten, freundlich oder feindlich identisch mit ihnen sei; sondern die Menge ist absolute Einzelnheit, und der Begriff der Menge, indem sie eins sind, ist ihre Abstraktion ihnen fremd, außer ihnen; - auch nicht eine bloße Mehrheit, denn die Allgemeinheit, in welcher sie eins sind, ist absolute Indifferenz; in einer Mehrheit aber ist diese nicht gesetzt, sondern die Mehrheit ist nicht die absolute Vielheit, als Darstellung aller Differenzen, durch welche Allheit eben sich allein die Indifferenz reell darstellen, und eine allgemeine sein kann.“ (GW5, S. 325)

 

Jede menschliche Beziehung setzt die absolute Sittlichkeit aber voraus, auch die Liebe und die Familie: 

„Die Sittlichkeit muß mit völliger Vernichtung der Besonderheit und der relativen Identität, deren das Naturverhältnis allein fähig [ist], absolute Identität der Intelligenz sein; oder die absolute Identität der Natur muß in die Einheit des absoluten Begriffs aufgenommen, und in der Form dieser Einheit vorhanden sein: ein klares und zugleich absolut reiches Wesen, ein vollkommenes sich Objektivsein und Anschauen des Individuums in dem Fremden, also die Aufhebung der natürlichen Bestimmtheit und Gestaltung, völlige Indifferenz des Selbstgenusses; auf diese Weise ist der unendliche Begriff allein schlechthin eins mit dem Wesen des Individuums, und dasselbe in seiner Form als wahre Intelligenz vorhanden; es ist wahrhaft unendlich, denn alle seine Bestimmtheit ist vernichtet; und seine Objektivität ist nicht für ein künstliches Bewußtsein für sich, mit Aufhebung der empirischen Anschauung und für die intellektuelle Anschauung; so [ist] die intellektuelle Anschauung durch die Sittlichkeit und in ihr allein eine reale, die Augen des Geistes und die leiblichen Augen fallen vollkommen zusammen; der Natur nach sieht der Mann Fleisch von seinem Fleisch im Weibe, der Sittlichkeit nach allein Geist von seinem Geist in dem sittlichen Wesen, und durch dasselbe.“ (GW5, S.  324)


Das ist der Grundgedanke des bisher Gesagten und das wichtigste Ergebnis der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens bis 1802/03: Das ethische Ideal, das sich der Mensch setzen soll, also der Sinn, den der Mensch seiner eigenen Existenz verleihen soll, darf nicht willkürlich und ohne jegliche Grundlage sein, d.h. nur auf der rein empirischen Subjektivität basieren, sondern muss in der Sittlichkeit des Volkes verankert sein, die als solches die Manifestation des Absoluten darstellt und daher die Sittlichkeit des Absoluten, die absolute Sittlichkeit, ausdrückt.

Da aber die absolute Sittlichkeit den Sinn der Welt darstellt, also ihre Entwicklungsrichtung, und das Volk die höchste Lebensform und Form der Selbstdarstellung des Absoluten ist, fällt der Sinn der menschlichen Existenz in der Welt mit dem Sinn der Welt zusammen, und zwar in dem Moment, in dem sich das Individuum durch die Religion und die Philosophie von der eigenen empirischen zur absoluten Subjektivität erhebt.

Wir werden noch auf die genaue philosophische Bedeutung der von Hegel durchgeführten,  jedoch bereits in der Originalbotschaft Jesu vorhandenen Vereinigung von Religion und Moral, Gott und Mensch, Absoluten und Sittlichkeit, Sinn der Welt und Sinn der menschlichen Existenz in der Welt, zu sprechen kommen, und zwar im Zuge der Zusammenfassung der Bedeutung des philosophischen Systems von Hegel als Folge seiner Entwicklung.

Fürs erste begnügen wir uns damit, die Entstehung der beiden Grundbegriffe des philosophischen Systems von Hegel dargestellt zu haben, und zwar des logisch-metaphysischen Begriffes des Absoluten und des moralisch-ethischen Begriffes der absoluten Sittlichkeit, beide gewonnen durch die Umwandlung der jeweiligen Hauptvorstellungen des ursprünglichen Christentums in die entsprechenden philosophischen Begriffe.

Mit der Formulierung des Ideals der absoluten Sittlichkeit 1802/03 endet das dritte und letzte Stadium der zweiten Phase der immanenten Entwicklung des Hegelschen Denkens.

FUßNOTEN

[13]) Weitere wichtige Quellen sind die von Hegel publizierten Abhandlungen für die Zeitschrift  Kritisches Journal der Philosophie, sowie die anderen Schriften verschiedener Natur (vgl. die Hegelschen Quellen in der Bibliographie).

[14]) Über die - natürlich dialektische - Aufhebung der Philosophie von Schelling durch das  philosophische System Hegels vgl. V 9, S. 187-188.

[15]) Die folgende Abhandlung des Begriffs des Absoluten basiert auf Überlegungen, die Hegel in seiner zitierten Differenzschrift durchführte, insbesondere im Kapitel Vergleich zwischen dem Prinzip der Schellingschen und Fichteschen Philosophie.

[16]) Siehe z.B. den Text 64, (GW 2,  S. 345, 11-15),  wo es um Objektivität und Subjektivität explizit geht. Sie stellt übrigens einen entscheidenden Beweis dafür dar, dass der ursprüngliche dialektische Kern des zukünftigen philosophischen Systems von Hegel noch vor den Jahren in Jena entstanden ist, genauer gesagt zwischen 1797 und 1800.

[17] Über den Begriff der ’Sittlichkeit’ als Grundmerkmal des Begriffs des Volkes s. die fragliche Schrift S. 92-93 (GW 4, 467-468).

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